Ghadhafi – zwischen Utopie und Realitätsverlust

 20. Oktober 2011, 14:45, NZZ Online,  von Isabelle Imhof

Der libysche Machthaber ging den Weg aller Despoten

Wer war Muammar al-Ghadhafi, der Mann der zum Feindbild des libyschen Volkes geworden ist? Sein Vorbild war Nasser, seine Ambitionen waren enorm. Doch letztlich ging der Mann, der als unberechenbar und launenhaft gilt, den Weg aller Despoten: Er liess sich von der Macht korrumpieren.

Der Mann war so schwer zu fassen wie die Schreibweise seines Namens in lateinischer Schrift: Muammar Muhammad al-Ghadhafi, der «Brüderliche Führer und Leiter der Revolution vom 1. September des Grossen Sozialistischen Libysch-Arabischen Volkskongresses» oder kurz, der Revolutionsführer. Auch die Berichte über seine Herkunft sind diffus wie die Mittagsluft über der Wüste, aus der seine Familie stammt.
Geboren und aufgewachsen ist Ghadhafi in einem vollkommen beduinisch-libyschen Umfeld. Das Geburtsdatum wird manchmal mit dem 7., dann wieder mit dem 19. Juni 1942 angegeben. Es ist gut möglich, dass die Familie dieses nicht genau kennt. Denn in jenen Gesellschaften spielten Geburtstage keine Rolle, so dass statt dessen häufig das Datum der amtlichen Registrierung des Neugeborenen angegeben wurde.

Grosses Vorbild Nasser

Der Funke der Revolution zündete 1952: Als zehnjähriger Schüler soll Muammar bereits grosse Bewunderung für den Umsturz in Ägypten empfunden habe. Gamal Abdel Nasser sei von da an sein Vorbild gewesen, sagte er später. Nach diesem Vorbild gründete Ghadhafi 1965 den «Bund der freien Offiziere» mit dem Ziel, König Idriszu stürzen und die Monarchie abzuschaffen. Schon als Vierzehnjähriger soll Muammar einer Revolutionären Zelle angehört haben. Angeblich soll er deswegen von einer Schule gewiesen worden sein.
Gesichert ist, dass Ghadhafi an der Universität Benghasi Geschichte und Recht studierte, dann aber in die Militärakademie übertrat. 1965, mit 23 Jahren, war er Leutnant. Er erhielt die Gelegenheit, seine Ausbildung in Grossbritannien, unter anderem in der renommierten Militärakademie von Sandhurst, zu vertiefen.

Militärputsch im September 1969

Ghadhafi gilt heute als Anführer des Staatsstreichs vom 1. September 1969. Damals jedoch wurden zunächst andere als Anführer genannt, etwa ein Oberst Bushwair und ein Oberst Saaduddin Abu Shweirib. Der Putsch verlief unblutig, denn der König befand sich zur Kur im Ausland und der Kronprinz Hassan ar-Ridha, ein Neffe des Königs und eine farblose Figur, kapitulierte sofort. Doch die Rhetorik von damals gleicht der heutigen: In einem Communiqué an die Bevölkerung hiess es: «Euer Wunschtraum von Sozialismus, Freiheit und Einheit hat sich erfüllt. Wir haben die Regierung gestürzt, damit ihr euer besetztes Land wieder zurücknehmen könnt.»
Es wurde per sofort verboten, Bilder der neuen Machthaber zu verbreiten. Dies galt auch für die Korrespondenten ausländischer Zeitungen. Der NZZ-Korrespondent vermutete, dass dies mit dem jugendlichen Alter der Putschisten zusammenhänge. Ghadhafi war damals erst 27 Jahre alt. Während der chaotischen Zustände des Staatsstreichs ernannte er sich selbst zum Oberst. Eine Woche nach dem Putsch, am 8. September, wurde Ghadhafi vom Revolutionsrat zum Chef der Streitkräfte bestimmt. Die Regierung aber bestand aus anderen Männern, teilweise aus Militärs.

Macht und Kontrolle

Die Revolutionäre, bald unter Ghadhafis Leitung, wollten die Korruption und Vetternwirtschaft beseitigen, die unter König Idris im ganzen Land grassierte. Ghadhafi zog in allen Bereichen die Fäden. Er erklärte den Koran zur einzigen Quelle der islamischen Rechtsprechung, Rechtsgelehrte erklärte er für überflüssig. Er revidierte gar den muslimischen Kalender. 1976 liess er sich als Oberbefehlshaber der Streitkräfte und Generalsekretär des Revolutionären Kommandorats einsetzen. 1979 legte er plötzlich alle Ämter nieder.
Ghadhafi war schon früh eine schwer erfassbare Persönlichkeit. Gab er zunächst vor, weder an Personenkult noch an Reichtum interessiert zu sein, verhielt er sich in Wirklichkeit wie ein politischer Popstar. Seine Vorliebe für prunkvolle Uniformen, sein Sonnenbrillenkult und seine ausufernden Ansprachen wurden zum Markenzeichen.

Utopien und Träume

1973 erschien Ghadhafis „Grünes Buch“, ein Leitfaden für Gesellschaftsfragen, Politik und Wirtschaftstheorie. Darin erläuterte er auch das libysche Regierungssystem mit den Volkskongressen und stellte seine selbstentwickelte «Dritte Universaltheorie» vor, auf der das politische System basierte. Die Thesen haben utopischen Charakter und erinnern teilweise an frühsozialistische Projekte. Realpolitisch ist Libyen auch 42 Jahre nach der Revolution weit davon entfernt, diese Theorien umgesetzt zu haben. Auch andere Träume, etwa der Traum eines Panarabischen Staates, scheiterten.
In den Achtzigerjahren galt Ghadhafi, vor allem in den USA, als Inbegriff des Bösen. Er wurde beschuldigt, in den Flugzeuganschlag von Lockerbie 1988 (Pan-American-Flug 103) verwickelt gewesen zu sein. Ende der neunziger Jahre gestand Libyen offiziell die Schuld an dem Attentat ein. Der amerikanische Präsident Ronald Reagan {US-Präsident] liess Ghadhafis Stützpunkt in Tripolis Bab al-Aziziyah bombardieren, doch Ghadhafi entkam dem Anschlag. Angeblich wurde er von seinem Neffen Milad gerettet, den er später adoptierte. Er adoptierte ferner, vermutlich postum, ein kleines Mädchen, das bei dem amerikanischen Bombenangriff ums Leben gekommen war. Teile der Ruine blieben bis heute als Gedenkstätte bestehen.

Beziehungen zum Westen

Libyen hat zweifelsohne jahrzehntelang zahlreiche Widerstandsgruppen in aller Welt unterstützt, so auch die Palästinenser, die IRA {Spanien} und korsische Separatisten {Korsika}, {Frankreich}. Doch nach den Anschlägen vom 9/11 [nine eleven} in den USA grenzte Ghadhafi sich öffentlich vom Terrorismus ab. Er bot 2002 auch eine Entschädigung für die Familien der Opfer des Anschlags von Lockerbie an, 10 Millionen Dollar pro Familie. Damit versuchte er sein Image aufzubessern.
Ghadhafi versuchte verstärkt, im Maghreb und im afrikanischen Raum mehr Gewicht zu gewinnen. 2009 wurde er Präsident der Afrikanischen Union. Regierungsvertreter der westlichen Welt trafen sich mit ihm und wollten plötzlich wieder mit ihm ins Geschäft kommen. Es lockten die grossen Erdölvorräte {Erdöl} des Landes. Dies wusste der libysche Machthaber geschickt zu nutzen.

Launen und Realitätsverlust

Innenpolitisch betrieb Ghadhafi einen Personenkult, der seinesgleichen suchte. Seine Kinder wurden in jeder Beziehung privilegiert. Sie kontrollierten viele Sektoren der «Privatwirtschaft», etwa die Telekommunikation und zwei «unabhängige» Zeitungen. Weil Ghadhafi dem Militär nicht traute, liess er Parallelorganisationen aufbauen oder unterstellte gewisse Einheiten, namentlich die Luftwaffe und eine Elitebrigade, seinen Söhnen.
Es gab immer wieder Stimmen, die am Geisteszustand des Machthabers zweifelten. Auf Wikileaks veröffentlichte Dokumente besagen, dass sich Diplomaten in Tripolis diese Fragen gestellt hatten. Die Sprunghaftigkeit und das exzentrische, oft unberechenbare Verhalten des «Brüderlichen Führers» liessen zumindest vermuten, dass er an Realitätsverlust und mangelnder Bodenhaftung leidet.

Empörter alter Mann

Seine Auftritte während der Unruhen zeigten einen missmutigen, zerfahrenen, empörten alten Mann, der partout nicht einsehen wollte, dass seine Zeit abgelaufen ist. Jemand, der mit einem Regenschirm fuchtelt und Unzusammenhängendes faselt. Der am Fernsehen Gedichte vortragen will und sich in den eigenen Sätzen verheddert. Eine tragische Figur, wäre da nicht der Krieg und die Gewalt gegen das eigene Volk gewesen.
Rhoenblicks Kommentar:
Muammar al-Ghadhafi – eine tragische Figur?
Ich gehe mit Frau Imhof nicht einig, wenn sie ihren gut recherchierten Artikel mit der Wertung abschliesst: „Eine tragische Figur, wäre da nicht der Krieg und die Gewalt gegen das eigene Volk gewesen.“
Muammar al-Ghadhafi war ein Egomane, wie sie die Menschheit – leider – immer wieder hervorbringt: Sie wirken zum Nachteil, zum Schaden nicht nur der Menschen, die in ihrem Herrschaftsbereich leben sondern weit darüber hinaus. Frau Imhof vergisst bei ihrer Wertung die von Libyern in seinem Auftrag verübten Attentate im Ausland (Lockerbie usw.). Ich erinnere auch an seinen Auftritt vor der UNO {UN}, bei dem er der Schweiz ihre Existenzberechtigung abgesprochen hat. Da Despoten, wie auch andere führende Persönlichkeiten nur von Jasagern und Nachbetern umgeben sind, verlieren sie in jeder Hinsicht das Augenmass.
Wie Frau Imhof schreibt, wurde Ghadhafi 2009 für ein Jahr Präsident der Afrikanischen Union. Viel wichtiger jedoch scheint mir, dass die Initiative zur Gründung der neuen Afrikanischen Union auf den libyschen Revolutionsführer Muammar al-Ghadhafi zurück geht. Er war vehement für die Idee einer Union eingetreten und hatte mit großem finanziellen Aufwand bei den afrikanischen Staatschefs dafür geworben. Al-Ghadhafi erklärte sich bereit, viele Institutionen der AU zu finanzieren und überzeugte dadurch viele Skeptiker. {aus Wikipedia]. Die Arabische Union sollte nach Ghadhafis Idee ein Abbild der EU {Europäische Union}, sein; gegründet wurde sie 2002.
[Gaddafi], [Muammar al-Gaddafi], [al-Ghadhafi], [al-Gaddafi]

Über Juerg Walter Meyer 405 Artikel
Geburtstag 22. November 1937 Geschlecht Männlich Interessiert an Männern und Frauen Sprachen Schwizerdütsch, Deutsch, Schweizer Französisch und Englisch Politische Einstellung Liberalismus Meine politischen Ansichten und Ziele:Förderung der, Forderung nach und Durchsetzung der Eigenverantwortlichkeit. Liberal, – der Staat ist jedoch kein Nachtwächterstaat. Post, öffentlicher Verkehr sind Staatsaufgaben; diese und andere Staatsaufgaben kann er delegieren – Kontrolle ist besser als Vertrauen. – Generell: K-Kommandieren, K-Kontrollieren, K-Korrigieren – unter Inkaufnahme dass man als unangenehm empfunden werden kann. – Unabhängige Justiz, die ihre Entscheide nach Erlangung der Rechtskraft auch durchsetzen kann; keine Einsparungen bei der Polizei. – öffentliche Schulen, dreigliedrige Oberstufe. Nur die besten gehen auf ein Gymnasium; Matur = Reifezeugnis für Studium; Studiengebühren an den Hochschulen und Universitäten – ausgebautes Stipendienwesen. Prüfen, welche Aufgaben des Staates dem BWLer-Massstab ausgesetzt werden können. „Gewinn“ ist nur ein Massstab für das Funktionieren eines Staatswesens. In gewissen Bereichen – Schulen – BWL-Einfluss wieder zurückfah Kontakt Nutzername rhoenblickjrgmr(Twitter) Facebook http://facebook.com/juergwalter.meyer Geschichte nach Jahren 1960 Hat einen Abschluss von ETH Zürich 1956 Hat begonnen hier zur Schule zu gehen: ETH Zürich 1950 Hat einen Abschluss von Realgymnasium 1937 Geboren am 22. November 1937